KÖTHEN
STUDENTEN, BACH UND KÖNIGSKAFF
Hochschule Köthen / Anhalt

"An der Technischen Hochschule Köthen, die am 4.Mai 1891 als "Academie für Handel, Landwirtschaft und Industrie" gegründet wurde und somit eine lange Tradition in der Ausbildung von Ingenieuren und Ökonomen besitzt, werden in 7 Studiengängen, denen 18 Fachrichtungen zugeordnet sind, Diplomingenieure, Diplominformatiker, Diplommathematiker, Diplomkaufmänner und -kauffrauen sowie Diplomwirtschaftsingenieure ausgebildet. Viele Studiengänge und Fachrichtungen wurden in Übereinstimmung mit der internationalen Entwicklung neu konzipiert. Der vorhandene Hochschulkomplex mit seinen Vorlesungsräumen, Laboratorien, Praktikumsplätzen und Technika ermöglicht eine moderneund praxisnahe Ausbildung, bei der Sie frühzeitig in die selbständige Bearbeitung wissenschaftlicher Aufgaben einbezogen werden." Prof.Dr.sc.techn.K.Gramlich, Rektor, in einem Vorwort zur Technischen Hochschule 1990

Köthener Spezialität

Der Campus war neben den täglichen Herausforderungen integraler Bestandteil des Studentenlebens. Wir teilten uns über Jahre einige Quadratmeter zum Schlafen und intensivierten die Fachgespräche bei Bockbierbowle und russischen Wässerchen.

"Nehmen wir einmal an, Köthen wäre eine normale Stadt.“ Köthen. Mir sagte der Name lange Zeit nichts. Ich wußte nicht einmal, wo der Ort lag. Und doch sollte er mehr als fünf Jahre mein Leben bestimmen, meinen Rhythmus und Tagesablauf. Ich gestehe fast zwanzig Jahre später meine Erinnerungen an Köthen niederzuschreiben, meine Reportage ist daher an manchen Stellen etwas überholt. Das „Zelt“ war in den 1990er Jahren noch die angesagteste Diskothek und ich war nicht ein einziges mal dort gewesen. Die Studentenclubs VT und AB, Drehscheibe studentischen Lebens, sind schon lange geschlossen. Auch die Pädagogische Hochschule, die am 1. November 1887 als Herzoglich Anhaltisches Landesseminar für Lehrerbildung eröffnet, schloss trotz des hohen Frauenanteils 1997 ihre Pforten.

Mich zogen die geänderten gesellschaftlichen Verhältnisse nach 1989 in das Nest, welches sich selber Kaiserlich-Königliches Kuh Kaff nannte. Köthen bot damals den ersten Fachhochschulabschluss im neuen Bundesland Sachsen-Anhalt an. Ich sollte noch solange bleiben, bis ich meine Diplomarbeit erfolgreich verteidigt hatte.

Bis 1996 fand das studentische Leben zwischen Rüsternbreite und Pädagogischer Hochschule statt. Wir, ein kleiner Trupp Unwissender, hatten uns 1992 dazu hinreißen lassen, die Königsdisziplin der Ingenieurswissenschaften studieren zu wollen. In Gedenken an Hugo Junkers, der seine Flugzeugwerke im nahen Dessau zu weltweitem Ruhm gebracht hatte, an Johann Sebastian Bach, der von 1717 bis 1723 als Hofkapellmeister des Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen seine besten Jahre in der Stadt verbrachte und in stiller Anlehnung an die Sprachpflege der Fruchtbringenden Gesellschaft des 17. Jahrhunderts, änderten sich im Laufe der Jahre viele Ansichten und Einstellungen. Nach einigen Anlauf- und Selbstfindungsschwierigkeiten, nach Exmatrikulationen und diversen Prüfungen, freiwilligem Verzicht, nach Feiern und nicht zu verstehenden Vorlesungen, Messebesuchen und ein bis drei Exkursionen erhielt ein kleines Häuflein seine Ernennung zum Diplom-Ingenieur (FH) für Verfahrens- und Umwelttechnik.

Doch auch Köthen selbst blieb von den Änderungen der 1990er Jahre nicht verschont. Die Ingenieurshochschule verlor 1991 ihren Status und die Hoffnung auf eine Universitätsadelung. Der demokratisch-kapitalistische Staat der Bundesrepublik Deutschland nahm für D-Mark und Reisefreiheit Zinsen. Die neuen Verantwortlichen verabschiedeten augenscheinlich und vermutlich politisch vorbelastete Mitläufer, Assistenten, Professoren und Experten. Die Hochschulkader waren mit sich und den neuen Verhältnissen beschäftigt und überfordert. Herr Försterling, unser ehemaliger Sportlehrer, kam mit den Einflüssen, die auf die ehemals sozialistischen Staatsbürger einströmten, nicht mehr zurecht und erschoss sich Ende der 1990er Jahre.

Anfang der 1990er Jahre brach der Maschinenbau in Deutschland zusammen, Ingenieure verloren ihren Job, die Zukunft und Hoffnung und prostituierten sich als Billiglohnkräfte auf dem Arbeitsmarkt. Die deutsche Wirtschaft und Politik verlangte nun nach allwissenden Betriebswirtschaftlern und neumodischen Wirtschaftsingenieuren. Doch 1992 war für uns die Welt in Ordnung und wir widersetzen uns der Mode und sahen uns als letzte Mohikaner der Ingenieurskunst.

Auch wenn wir eine Studentenbetreuung seitens der neu ins Leben gerufenen Fachhochschule Köthen vermissten, so wenig mussten wir noch den Studenten vom Dienst (SvD) stellen. Die kleine Wärterzelle in den Studentenwohnheimen blieb seit 1990 unbesetzt. Der Ausgang der Studenten wurde nicht mehr reguliert und auch im Wohnhochhaus Nummer fünf, dem ehemals lustvoll verschrienen „Pflaumensilo“, lebten nun Studenten und Studentinnen nebeneinander oder zusammen. Genosse oder Genossin war nun niemand mehr.

Unser Tagesablauf wurde in den folgenden Jahren von  unverständlichen Lehrmethoden, ungewollten praxisnahen Versuchen und kalorienhaltigem Mensaessen geprägt. Wir ließen die Ammoniaksynthese ebenso hochleben wie den Rektifikationsprozess und Elektrolyseverfahren. Messen, Steuern und Regeln überließen wir den Experten, zu denen wir interessanterweise später selbst zählen sollten und machten uns mit den Grundbegriffen der Marktwirtschaft vertraut. Wir übten uns in Wärmebilanzen, stöchiometrischen Rechnungen und Gasreinigung durch Adsorption und lernten die Grundbegriffe der Verfahrenstechnik kennen („Die Aufgaben der VT liegen in der technischen Vorbereitung (Projektierung) und Durchführung von Stoffumwandlungsprozessen.“) und die lakonisch hingeworfene Bedeutung des Ingenieurwesens: „Wir als Ingenieure sind sowieso die Krönung der Schöpfung, auch wenn die Anderen das nicht einsehen. Erfahrung und Intelligenz zeichnen uns aus und wir werden viel zu billig bezahlt.“ Unser Professor Kurt Gramlich wusste vom ersten Moment an, wie er uns für unsere spätere Karriere motivieren musste. Unsere Dozenten hießen Malingriaux, Spinner, Strauß und Sperling. Marketing brachte uns unser richtiger Wessi Gunter Dehr bei, der stolz darauf war, in jungen Jahren hippes Mitglied der Berliner Jusos gewesen zu sein. In Elektronik sahen wir mehr als nur Jürgen Schwartz, der unseren Studienkumpel Jochen zur Weißglut und Exmatrikulation trieb. Jochen wurde danach Sozialpädagoge. Raimar Schucany ist inzwischen seit einigen Jahren tot, brachte uns jedoch auf eine eigene und unnachahmliche Weise die unendlichen Weiten der Mechanik nahe. „Er war einer unserer Besten“, war sein Lieblingsspruch, den er im Zusammenhang mit gekreuzten Palmenzweigen, Traueranzeigen und missglückter Statik zu zitieren pflegte.

Das Kuhkaff prägte und formte uns bis in die letzte Arterie. Die Gaststätten Schlachteplatte und Keller waren nur etwas für Snobs; die – inzwischen geschlossenen Studentenclubs VT, AB, SBW waren für Eingeweihte die geistigen Höhepunkte von Köthen. Nur der VT überstand die Jahre. Doch auch das Studentenleben selbst änderte sich. Vier Studenten teilten sich noch in den ersten Jahren 15 Quadratmeter Studentenzimmer; 24 verrostete und altersschwache Duschen warteten auf 500 Studenten im Keller. Später teilten wir uns die 15 Quadratmeter zu zweit und Duschen wurden auf jeder Etage eingebaut. Professor Kurt Gramlich brachte uns die Bedeutung der Thermodynamik bei („Wer absolute Abscheidegrade haben will, muss den 2. Hauptsatz der Thermodynamik abschaffen. Das kann er durch einen Parteitagsbeschluss tun.“) und die Abenteuer des Raumschiffs Enterprise definierten das Ende der Vorlesungen und Seminare.

Wir lernten, alle Gesetzmäßigkeiten zu nutzen und Lehrbuchweisheiten zu hinterfragen. Kurt Gramlich selbst hinterfragte die Notwendigkeit und Zusammenhänge der Ingenieurswissenschaften und PR: „Was nutzt es, wenn sich Absolventen verkaufen können, aber kein technisches Verständnis haben?“

Frau Doktor Johanna Rollin brachte uns trotz enormer Beratungsresistenz die weiten Welten der anorganischen Chemie bei, katalytische und elektrochemische Reaktionsverfahren, Fermentationen und Sterilisationen. Auch Doktor Karl Geier gehörte zum Urgestein der Hochschule und brachte uns mit Bockbierbowle die wichtigsten Regeln der Thermodynamik bei: "Bei 0 K kann doch keiner mehr arbeiten ohne Handschuhe."

Der Anteil ausländischer Gaststudenten nahm Mitte der 1990er rasant zu und für einige Monate lernten auch Seppo und Timo aus Finnland deutsche Ingenieurskunst, Seifenkistenrennen und Campusleben kennen.

Das jährliche Seifenkistenrennen während der Studententage gehörte zu den Highlights Köthener Kulturveranstaltungen. 1995 berichtete die Lokalzeitung MZ über die Vorbereitungen: „Wenn die Schweißnähte reißen, läßt er sich exmatrikulieren“, lästerten die Knastologen der „Alcatraz“ über ihren Schweißer, der nach dem Probelauf im Seifenkistenrennen am VT-Club einen prüfenden Blick auf die Nähte an der Achse warf. „Hält“, kommentierte der Betroffene. Drei Studenten hatten drei Tage zu tun, eine Holzkiste zu zimmern. Auf einem Schemel, gleich einem elektrischen Stuhl, hatte sich Sabine postiert. Den Blechnapf und die trockenen Brotscheiben hatten die Knast-Studenten vorsichtshalber festgeschraubt. „Tut mir leid, der Schlüssel ist weg“, machte einer der Sträflinge verschmitzt eine Andeutung auf die angekettete Gefangene. „Das Gitterfenster kommt aus dem Karnickelstall“, erläuterte Henning das Gefährt und: „Wir werden wohl die schlechteste Zeit mit der Kiste haben, aber dafür die beste Kiste.“ Henning sollte Recht behalten. Als „Alcatraz-Brothers“ schrieb er sich mit Andre und Matthias in die Geschichte der Köthener Seifenkistenrennen.

Wir konzentrierten uns auf unsere Prüfungen, erstellten Energiebilanzen für die Stadtwerke und setzten gemeinsam mit unseren Professoren und Dozenten Schwerpunkte im Studentenleben getreu dem Motto von Professor Günther Klappach: „Diese Sache ist mir als Praktiker völlig egal. Aber die Theoretiker können sich an dieser Sache hochgeilen.“

Großen Anteil am Studium hatten der Elferrat und Köthener Karneval. 1954 gegründet, lockte der Rosenmontagszug 1955 Volksmassen auf die Straße, wie es nie zuvor für möglich gehalten wurde. Doch schon einige Jahre später  wuchs in der Partei und der staatlichen Leitung der DDR der Unmut über die Unregierbarkeit des Kukakö-Mittelstandskarnevals, der zur Volksbewegung geworden war und im Februar 1959 wurde der Kukakö auf einem Trauermarsch am Rosenmontag mit einem Sarg zu Grabe getragen. Nach der Wende wurde die Idee des Kukakö mit dem Elferrat der damaligen TH wieder ins Leben gerufen und am 29. Februar 1992 fand die öffentliche Gründungsprunksitzung statt. Heute ist der KuKaKöthener Rosenmontagszug der größte Zug in Mitteldeutschland.

Der historischen Bedeutung Köthens mit seinen jährlichen Bachfesttagen, seines Einflusses auf die Homöopathie durch Dr. Samuel Hahnemann, der hier 1828 sein letztes wichtiges Werk "Die chronischen Krankheiten" schrieb oder der sprachpflegerischen Tradition der Fruchtbringenden Gesellschaft des 17. Jahrhunderts waren wir uns nur vage bewusst. Wir fuhren öfter ins nahegelegene Dessau, welches nach 1989 trotz Bauhaus-Bekanntheit, den ehemaligen Hugo-Junkers-Werken und des Umweltbundesamtes zur Provinzstadt kollabierte. Nebenan lagen der Wörlitzer Park, die weiten und unberührten Elbauen, Schloss Mosigkau und die reformatorische Lutherstadt Wittenberg.

Doch irgendwann wurde mir Köthen zu klein und die Lehrmethoden über. Die meisten meiner Kommilitonen sahen das ähnlich und hatten wohl auch die ewig gestrigen Langzeitstudenten vor Augen, die sich über Jahre von halben Assistenzstellen nährten. Ich schloss meine letzte große Arbeit im Herbst 1996 ab und fühlte mich für die Welt und freie Marktwirtschaft gerüstet. Dass ich später auf gefährliche Mischungsverhältnisse von Inkompetenz und Arroganz stoßen sollte, wusste ich damals glücklicherweise noch nicht. Doch machten wir vorerst auf dem Campus Platz für jüngere Enthusiasten und Karrieristen. Die Zeiten hatten sich bereits erneut geändert.

Bachstadt Köthen

Als besonderer Höhepunkt im kulturellen Leben der Stadt heben sich die jährlich stattfindenden Bachfesttage hervor.

Hochschule Gebäude 03

Die Keimzelle künftiger Verfahrensingenieure beherbergt neben Seminarräumen und Büros auch zahlreiche Laboratorien für Chemie und Strömungsmechanik.

Schloss Köthen

Seit 1835 befindet sich die Vogelsammlung von Johann Friedrich Naumann (1780 - 1857) im Schloss. Naumann war der Begründer der Ornithologie als Wissenschaft.

Dr. Karl Geier

"Bei Null Kelvin kann doch keiner mehr arbeiten ohne Handschuhe."

Köthener Ansichten

Die Stadt war im Mittelalter unter Albrecht dem Bären wichtiges askanisches Herrschafts- und Handelszentrum. Johann Sebastian Bach schuf in Köthen als Hofkapellmeister bei Fürst Leopold von 1717 - 1723 Teile seiner "Brandenburgischen Konzerte" und des "Wohltemperierten Claviers".

Stadtblick

Den besten Blick zur Stadt bot sich vom Wohnheim 5 über das Campusgelände. Die 1115 gegründete Stadt Köthen ist reich an historischen Traditionen.