RIGA
DEUTSCHORDEN, RUSSISCHE PROVINZ UND EUROPÄISCHE UNION
Rolandstatue Riga

"Gegenwärtig erlebt Riga ein stürmisches Wachstum. Seine heutige Fläche übertrifft die der relativ gut erhaltenen Altstadt um das Tausendfache. Die zum Teil nach ihrem künstlerischen Wert einzigartigen Baudenkmäler der Altstadt waren der Grund dafür, daß Riga in das Verzeichnis der bauhistorisch besonders wertvollen sowjetischen Städte eingetragen wurde." hieß es im 1985 erschienen "Handbuch für Touristen" des Moskauer Raduga-Verlags.

Nach der Unabhängigkeit Lettlands 1991 wurden die knapp zwei Millionen Letten 2004 Mitglieder der Europäischen Union.

Presselandschaft

Während in Lettland fünf national verbreitete Tageszeitungen publiziert werden, beträgt der Anteil der Leser gerade einmal knappe 14 Prozent.

"Heute ist Riga ein bedeutendes industrielles und kulturelles Zentrum der Republik ... Hier werden Dieselloks, Mofas, Fernsprechzentralen, die Koffergeräte VEF und andere Erzeugnisse hergestellt. Die Rigaer Wissenschaftler beschäftigen sich in erster Linie mit Meeresgeologie, Pflanzenschutz, rationeller Fischwirtschaft im Ostseebecken und anderen Problemen. Neben der Universität bestehen in der Stadt weitere 6 Hochschulen, hier gibt es 7 Theater und 17 verschiedene Museen. Gegenwärtig erlebt Riga ein stürmisches Wachstum. Seine heutige Fläche übertrifft die der relativ gut erhaltenen Altstadt um das Tausendfache.“

1985 war Riga noch Hauptstadt der Lettischen SSR und Lydia Dubinskaja schwärmte im Raduga-Verlag erschienenen Handbuch für Touristen weiter über den wichtigen Überseehafen der UdSSR „Die zum Teil nach ihrem künstlerischen Wert einzigartigen Baudenkmäler der Altstadt waren der Grund dafür, daß Riga in das Verzeichnis der bauhistorisch besonders wertvollen sowjetischen Städte eingetragen wurde. Die moderne Bebauung haben die Stadtväter äußerst taktvoll an den Stadtrand verlagert. So entsteht im Grunde genommen eine neue sozialistische Stadt.“

Sechs Jahre später befand sich das politische Weltgefüge im Umbruch, Lettland löste sich von der UdSSR in die Unabhängigkeit und rückte näher an die verlockende Attraktivität der Europäischen Union. Die baltischen Länder waren für uns, selbst Teil des ehemaligen Ostblocks, bis dahin fester Bestandteil der sowjetischen Hemisphäre; die kulturelle Geschichte und eigene Sprache der ehemaligen deutschen Siedlungsgebiete im „real existierendem Sozialismus“ untergegangen. Die lettischen Fürstentümer wurden in den Jahren nach 1237 durch den Deutschen Orden erobert; bereits 1201 wurde Riga vom deutschen Bischof Albert im slawischen Siedlungsgebiet gegründet.  In den folgenden Jahren folgten zahlreiche Deutsche dem Lockruf ins Baltikum; 1282 schloss sich Riga der Hanse an. Im Zuge der Reformation lutherisch geworden, fiel das Gebiet der Livländischen Konföderation im 16.Jahrhundert an Polen-Litauen und blieb bis ins 18.Jahrhundert zwischen Polen, Schweden und Russland umkämpft. Nach der Niederlage Schwedens im Nordischen Krieg fiel Lettland im frühen 18.Jahrhundert unter die Kontrolle des russischen Kaiserreiches; der deutsche Einfluss blieb bis zur Unabhängigkeit Lettlands noch weitere 200 Jahre bestehen. Dem aufkommenden Nationalismus in Europa folgten Jungletten und nach Russischer Revolution und Erstem Weltkrieg die Unabhängigkeit Lettlands. Während des Zweiten Weltkrieges zuerst von der Sowjetunion, später vom Deutschen Reich besetzt, wurde das Land bis zum Mai 1990 als Lettische SSR der der Sowjetunion angegliedert. Nach dem Auseinanderbrechen der UdSSR wendete sich die Republik Lettland gen Westen und wurde 2004 Mitglied der Europäischen Union. Am östlichen Ende blieb die lettische Republik weitgehend unbeachtet und entwickelte sich nur für wenige zur Kulturszene und zum Geheimtipp. Seit seinen Anfängen war besonders Riga ein Ort, an dem Völker und Kulturen zusammenkamen; sich ergänzten und ihre Einflüsse hinterließen.

Im Frühjahr 2013 waren wir auf den Spuren von Heinz Ehrhardt, Sergej Eisenstein und der lettischen Architektur, die Riga über die Jahrhunderte geprägt hatte. Während die Rigaer Ehrhardt und Eisenstein längst in die Kulturgeschichte eingegangen waren, mussten die meisten Gebäude der lettischen Hauptstadt nach den Kämpfen des Zweiten Weltkriegs neu aufgebaut werden. Während längs der kurzen Landebahn etliche abgewrackte Flugzeuge auf dem Rigaer Flughafen an die späten Jahre des 20.Jahrhunderts erinnerten, begegnete uns die frühe Geschichte der lettischen Hauptstadt zwischen Basteiberg und Düna, dem „Schicksalsfluss“. 1739 wurde Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen von der Zarin Anna Iwanowna zum Fähnrich der russischen „Braunschweig-Kürassiere“ ernannt, die in Riga in Garnison lagen. Die langen Rigaer Jahre sollten das Leben des „Lügenbarons“ nachhaltig prägen.

Die letzten Sonnenstrahlen strichen sanft über das Pflaster des Marktplatzes, an dessen nördlichem Ende das Rathaus seine klassizistische Fassade gen Himmel reckte. Der Neubau, 2003 fertiggestellt, erinnerte nicht mehr an den frühen Bau aus dem 14.Jahrhundert. Gegenüber lag im warmen Abendlicht das Schwarzhäupterhaus mit seiner niederländischen Renaissancefassade, welches im Krieg zerstört, zu Sowjetzeiten gesprengt und 1999 wieder eingeweiht wurde. Der ehemals gotische Bau aus dem Jahre 1334 diente ab 1477 der kaufmännischen Vereinigung der Schwarzhäupter als Versammlungsort. Die prächtige Rolandstatue, Sinnbild nord- und ostdeutscher Stadtrechte, lag bereits im kühlen Schatten. Einige Seitenstraßen weiter ragte der Dom über die Dächer. 1211 ließ Bischof Albert von Buxthoeven den Grundstein legen; die Mittelschiffe wurden im 14. und 15. Jahrhundert angebaut. Die zahlreichen Grabplatten erinnerten wieder an die frühe deutsche Präsenz. Die Deutschbalten stellten über die Jahrhunderte die Oberschicht der ursprünglich baltischen Provinzen Kurland, Livland und Estland. Die deutschsprachige Minderheit, die ab dem späten 12.Jahrhundert als Adel und Großbürgertum wesentlichen Einfluss auf Kultur und Sprache der Letten und Esten ausübte, stellte auch der russischen Geschichte zahlreiche Minister, Generäle und Politiker. Die deutsch-baltische Geschichte riss in den dunklen Jahren des 20.Jahrhunderts in der Folge der Hitler-Stalin-Vereinbarungen und dem Weltkrieg endgültig ab. Schmerzhaft modern erinnerte längs des Schwarzhäupterhauses das 1971 eröffnete Okkupationsmuseum an die deutsche und später sowjetische Besatzungszeit. Bis zur Wiederherstellung der lettischen Unabhängigkeit 1991 war es das Museum der Roten Lettischen Schützen.

30 Jahre später ging die lettische Angst vor dem propagierten russischen Übergriff um und das Säbelrasseln von Amerikanern und NATO wieder offiziell los. "Spiegel Online" schrieb dazu am 09.02.2015: „Das Baltikum fürchtet einen Übergriff Russlands wie in der Ukraine. Lettland und Estland seien auf solch einen "hybriden Krieg" mit irregulären Truppen aber vorbereitet - das erklärten deren Regierungen nun offiziell. ... Der ehemalige Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen hatte in einem Interview mit dem britischen "Telegraph" jüngst vor einem hybriden Angriff in den baltischen Staaten gewarnt. Damit könne der russische Präsident Wladimir Putin versuchen, die Beistandsgarantie der Nato zu testen. Lettland, Estland und Litauen standen bis zum Fall des Eisernen Vorhangs ein halbes Jahrhundert lang unter sowjetischer Besatzung. Nun fürchten die drei baltischen Staaten weitere territoriale Ansprüche Moskaus - zumal die drei Länder regelmäßig russische Militäraktivitäten unmittelbar an ihren Luft- und Seegrenzen beobachten.

Von dem Update des Kalten Krieges indessen ahnten wir damals nichts und sonnten uns am Himmelfahrtstag mit den Rigaern unweit des barocken Pulverturmes von 1650 bei einem Kaffee. Junge lettische Pärchen flanierten an den Restaurants vorbei, liefen hinunter zum Markt, auf dem bereits einige Musikbühnen aufgebaut wurden oder gaben ihr Geld in den zahlreichen kleinen Boutiquen aus. Präsenz ist alles im osteuropäischen Raum und während die Frauen elegant gekleidet unterwegs waren, protzten die Männer mit ihren deutschen und amerikanischen Nobelkarossen. Selbst vor den renovierungsbedürftigsten Wohngebäuden standen Edelschlitten, meist schwarz und chromblitzend.

Die Altstadt, historisches und geographisches Zentrum von Riga hat, in den letzten Jahren gefühlvoll restauriert, ihren besonderen Charakter zurückgewonnen. Das historische Gebäude der 1852 geschaffenen  Rigaer Börse, der Konventhof aus dem 13. Jahrhundert, das zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert Ensemble der „Drei Brüder“, das Schwedentor oder Mentzendorffhaus von 1695 waren nur einige Highlights lettischer Architekturgeschichte. Die Rigaer Neustadt gilt gemeinsam mit ihren Pendanten in Wien, Sankt Petersburg oder Prag als sehenswertestes Jugendstilensemble der Welt. Wir kosteten auf dem Zentralmarkt einige Pralinen, deren geschmackvoller Ruf weit über die Stadtgrenzen hinausreichte, analysierten lettisches Sauerkraut und deren junge Verkäuferin ebenso wie die Rentnerinnen, die sich mit dem Verkauf von Strümpfen einige lettisches Lats hinzuverdienten.  Der größte Lebensmittelmarkt Lettlands in den ehemaligen Zeppelinhallen galt in den 1930er Jahren als der modernste Markt von Europa.

Der Fahrstuhl auf den Fernsehturm führte uns zur 97 Meter hochgelegenen  Aussichtsplattform. Der resoluten Fahrstuhlführerin war es ein sichtliches Vergnügen, ihre Deutschkenntnisse wieder herauszuholen. Sie besserte ihre schmale Rente etwas auf, denn seit dem Beitritt Lettlands zur Europäischen Union waren die Zeiten nur für wenige Letten besser geworden. Junge Leute, wie ihre Tochter, die gut ausgebildet selbst in der Hauptstadt keine Arbeit fanden, suchten ihre Zukunft im westlichen Teil der EU.

Mit dem Zug fuhren wir hinaus nach Jürmala, dem Rigastrand und streckten unsere Füße ins noch kühle Ostseewasser. Der Kurort mit seinen Holzvillen, Kurhotels und Promenaden, Boutiquen, Eisverkäufern und schwefelhaltigen Quellen am schneeweißen Sandstrand gehört zu den beliebten Ausflugszielen der Hauptstädter. Der frühere Ortsteil Bilderlingshof war vor 1914 beliebter Aufenthaltsort der deutsch-baltischen Intelligenz und des Adels.

Schwedentor

Das einzig erhaltene Stadttor Rigas wurde 1698 gebaut.

Jürmala

Der weiße Ostseestrand ist seit Jahren beliebtes Ausflugsziel der Rigaer.

Bahnhof Riga

Der moderne Gebäudekomplex trennt die historische Altstadt von den russischen Vierteln im Ostteil der Stadt.

Torna iela

Die früheren Jakobskasernen beherbergen heute Cafes, Restaurants und Schönheitssalons.

Düna und Fernsehturm

Der mit 368,5 Metern hohe, 1986 fertiggestellte Turm auf einer Insel in der Düna ist der höchste freistehende Fernsehturm in der Europäischen Union.