TIBET 2 von 3
NOMADEN, BUDDHISTEN UND DIE CHINESISCHE FRAGE
Tibetischer Buddhismus

„Wenn der Eisenvogel fliegt und die Pferde auf Rädern rollen, dann wird das Volk der Tibeter wie die Ameisen über die ganze Welt verstreut, und die buddhistische Lehre wird das Land des roten Mannes erreichen“, besagt eine Prophezeiung des „Lotusgeborenen“, die aus dem 8. Jahrhundert stammen soll. Padmasambhava, der "Lotusgeborene", gilt als Begründer des Buddhismus in Tibet zur Zeit des tibetischen Königs Thrisong Detsen. Mit dem Einmarsch der Chinesen, dem Einsatz der ersten Flugzeuge in den 1950er Jahren und der Fertigstellung der Lhasa-Bahn 2006 scheinen die Worte des Guru Rinpoche wahr geworden zu sein.

Eine andere Weissagung berichtet davon, dass der Buddhismus im Westen ankommen wird. Doch muss bei aller derzeitigen Offenheit kritisch beobachtet werden, ob es sich nur um eine neue Verkleidung abendländischer Ich-Suche handelt oder um ein Erwachen. Empor ins Reich des Edelmenschen?

"Autonome Republik Tibet"

Seit dem Einmarsch der chinesischen Armee befindet sich das Land hinter den Bergen im Umbruch. Ein einzelnes Leben zählt so wenig wie das Schicksal eines ganzen Volkes. In Lhasa marschieren kleine Soldatentrupps durch die Straßen, die meisten Kreuzungen werden von jungen Rekruten bewacht und die alten Straßenzüge mit ihren Pilgern, Händlern und Touristen von den Dächern observiert.

"Die Chinesen hatten bereits in ihrem eigenen Riesenreich mit der „Umerziehung“ ihrer vielen Hundert Millionen Menschen begonnen, und diese Methode setzten sie nun auch in Tibet ein. Zu diesem Zweck hatten die Soldaten im Dorf Pang ein Zelt aufgestellt, in dem sie regelmäßig Versammlungen abhielten. An denen mussten nicht nur Dorfbewohner teilnehmen, sondern auch die Mönche und Nonnen, die in  den entlegenen Klöstern und Einsiedeleien der Berge lebten. Also wanderte Mola ins Tal, quetschte sich in die Menge und hörte zu, was die Chinesen vortrugen. Sie berichteten von fürchterlichen Zuständen in der tibetischen Gesellschaft, von ausgebeuteten Bauern und bösen Großgrundbesitzern, von nichtsnutzigen Mönchen und raffgierigen Rinpoches. … Nachdem die Chinesen mit ihrer Agitation fertig waren, mussten die Dorfbewohner selbst sprechen. Einen nach dem anderen holten die Soldaten nach vorne aufs Podium und forderten auf, „Selbstkritik“ zu üben. Die Dörfler sollten ihren Lebenslauf erzählen und dabei alles überlieferte Tibetische als feudalistisch und alles Chinesische als richtig, fortschrittlich, schön und eine glückliche Zukunft verheißend darstellen.“ In der Familiensaga „Eisenvogel“ reist die Schweizer Schauspielerin Yangzon Brauen zurück zu ihren tibetischen Wurzeln. Es ist die Vergangenheit ihrer Mutter und Großmutter, die 1959 über den steilen Gebirgszug des Himalaya nach Indien fliehen. Es ist die Geschichte Tibets in den letzten einhundert Jahren und des Umbruchs, in der ein einzelnes Leben so viel gilt wie ein Blatt im Herbstwind.

Im September 2009 erschien die Lebensgeschichte der drei Frauen, doch zu diesem Zeitpunkt ordnete ich mein Leben wieder einmal selbst um. Im Monat darauf saß ich in einem Reisebus mit einem wildgewordenen Busfahrer auf dem Weg nach Gyantse. Auch wenn ich in meinen Ansprüchen grundsätzlich bescheiden bin und mir mehr an den direkten Erfahrungen mit Land und Leute gelegen ist; spätestens als wir vor unserer Übernachtung, einem hässlichen Betonbunker in einem dunklen Hinterhof, standen, war mir meine Bescheidenheit schnuppe. Den meisten aus unserer Gruppe  war in diesem Augenblick klar, dass wir vor unserer tibetischen Reifeprüfung standen. Wir boykottierten den tibetischen Starrsinn, den Buddhismus und die Traditionen, beklagten unser Schicksal und uns ausgiebig bei unserem Reiseleiter. Das Verhältnis zu unserem deutschen Reiseveranstalter hatte seinen Tiefpunkt erreicht und sich – an dieser Stelle zugegeben – bis heute nicht erholt. Ich glaube, Timo kam damals ebenfalls zu der Ansicht, dass die Reiseleitung in Tibet nicht für einen praktizierenden Buddhisten wie ihn geschaffen wurde. Doch in den kommenden Wochen sollte er an den ständigen, nicht abnehmenden Herausforderungen reifen. Letztlich setzte er es durch, dass der gestörte Busfahrer abgelöst und wir zwei Tage später andere Fahrer erhalten sollten.

Wir waren überglücklich, als wir „unseren Kamikaze“ wieder für uns hatten und drängten uns wie in den Tagen zuvor in dem engen Jeep zurecht. Auf den Offroad-Strecken kämpfte Gerald meistens auf dem Beifahrersitz gegen aufkommende Übelkeit, während ich mich gemeinsam mit Tina und Lobsang über die enge Rücksitzbank schaukelte. Den Rhythmus gaben tibetische Musikcharts an, die hoch- und runtergespielt wurden. Unser Reiseleiter entpuppte sich als Gesangstalent. Den meisten Tibetern liegt das Singen augenscheinlich im Blut. Ich bin überzeugt, dass nur wir Deutschen viel zu oft zu steif sind und sich vor der Peinlichkeit schämen, tiefsinnige Volksmusik von sich zu geben. Es waren traditionelle, melodiöse und doch moderne Lieder, die uns von Nyid Sesung Tashi und Jyaldu Dro Sherten entgegen strömten. Die Landschaft war wunderbar, goldgelb die zahlreichen Pappelhaine und die Berge hoben ihre braunen Flanken in den nicht enden wollenden blauen Himmel. In diesen Augenblicken lebte der Mythos Tibet hell vor uns auf. Wir ließen die deutsch-tibetische Verbundenheit 4.300 Meter hoch leben, opferten für ein Campfeuer etliche getrocknete Yakfladen und mit unseren tibetischen Reisebegleitern einige Flaschen Lhasa-Bier. Auch wenn der deutsche Rhythmus nicht ganz stimmte und von hoher Textunsicherheit begleitet war; „Die Gedanken sind frei“ klang nie schöner als an jenem Abend in der Nähe des Klosters Reting.

Die ehemalige Festungsstadt Gyantse und die Palkor-Klosteranlage am Nyang Chu boten nur noch ein bescheidenes Abbild früherer Zeiten. Die kleine Provinzstadt lebt irgendwo zwischen altem Glanz und chinesischer Moderne. Die aus dem 14.Jahrhundert stammende Festung diente in früheren Jahren der tibetischen Regierung zur Kontrolle der Handelsroute nach Lhasa. Während der blutigen Invasion unter dem Engländer Francis Younghusband 1904 wurde die Anlage erobert. Mit der Expedition Younghusbands zwang das britische Königreich den Tibetern drei Handelsmissionen auf und etablierte einen britischen Stützpunkt in Lhasa. Der mächtige Kumbum-Chörten, den Fürst Rabten Kunzang 1427 fertigstellen lies, gilt heute als eines der bedeutendsten Denkmäler tibetischer Kunst. Diese riesige begehbare Stupa, die „Stupa der 100.000 Buddha“, war unser erstes Ziel im Klosterkomplex. Ein etwa 12jähriger Tibeter in einem engen Kassenhäuschen gewährte uns kritischen Blicks den Eintritt. Kora, Kora, in der Zwischenzeit hatte sich bei uns die Umrundung heiliger Stätten im Uhrzeigersinn eingeprägt. Fünf Etagen ging es hinauf bis zur Plattform. Der Chörten hat einen Durchmesser von 108 Ellen und hat 108 Türen. Die Zahl 108 ist heilig im Buddhismus und entspricht der Multiplikation von neun Maßeinheiten mit zwölf Tierkreiszeichen, also der Multiplikation von Raum und Zeit. Der Aufstieg von einem Stockwerk zum nächsten symbolisiert die rituelle Umwandlung des Menschen bis zur Erlösung. Die Klosteranlage von Gyantse ist eine Besonderheit, da sich innerhalb ihrer Mauern 18 unabhängige Klöster befinden, die zu unterschiedlichen tibetischen Sekten gehören – Gelugpa, Sakapa, Shalupa, Brupgpa und Karmapa. Überhaupt Religion. Während unserer Reise standen die Klöster Tibets im Mittelpunkt.

Stark ist der Mythos Tibet auch von der Religiosität  seiner Einwohner geprägt worden. Das geheimnisvolle Land auf dem Dach der Welt. Unerreichbar hinter dem höchsten Gebirgskamm der Welt, verschlossen durch eine lebensbedrohliche Landschaft im Norden und Westen. Tibets frühe Jahrhunderte waren geprägt von Krieg und Glauben; im 7.Jahrhundert leistete das chinesische Reich Tribut. Einzelne Fürstentümer bekämpften sich erbittert. Die Priester der alten Bön-Religion kämpften nach der Einführung des Buddhismus um ihren früheren Einfluss und ihre gesellschaftlichen Stellungen. Das Großreich Tibet zerfiel in viele kleine Teilreiche und im 13.Jahrhundert in den Machtbereich der Mongolen. 1578 erhielt Sonam Gyatso vom Mongolenherrscher Altun Khan als erster den Ehrentitel „Dalai Lama“ – Ozean der Weisheit. Seinen beiden Vorgängern wurde der Titel posthum verliehen.

Erst unter dem „Großen Fünften“, Dalai Lama Lobsang Gyatso, wurde Tibet um 1642 zu einer Theokratie. Macht und Religion lagen weiter in den Händen weniger. Tibet blieb bis 1950 ein feudal geprägtes Reich in selbstgewählter Isolation. Unter dem XIII. Dalai Lama begannen erste Reformen zur Modernisierung des Landes. Globalpolitische Prozesse warfen während der Jahrhundertwende ihre langen Schatten voraus: die Kolonialherrschaft des britischen Empires in Indien, der Einmarsch Younghusbands mit dem Ziel, russischen Einflüssen zuvorzukommen, die Erkundung Tibets durch europäische Forscher und Militärs und die Beanspruchung der Vorherrschaft durch China.

Am 7.Oktober 1950 überquerten chinesische Truppen die tibetische Grenze. 1959 floh Tenzin Gyatso, der XIV. Dalai Lama, nach Indien. Hundertausende Tibeter folgten. In den Jahren der Kulturrevolution 1966 bis 1976 wurde Angst und Terror in ganz China verbreitet, allein in Tibet wurden tausende Tempel und Klöster niedergerissen, hundertausende ermordet oder in Gefängnisse gesteckt.1980 beschloss das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei eine Liberalisierung in Tibet: Die Religionsausübung wurde wieder erlaubt, Besuche von Angehörigen im Exil genehmigt und den Bauern und Nomaden wieder mehr wirtschaftliche Selbstständigkeit zugestanden.

Von den 6.000 tibetischen Klöstern überstanden nur 13 die Kulturrevolution ohne Zerstörung. Einige der zerstörten Anlagen werden seit den 1980er Jahren wieder mühsam restauriert, Mönche und Nonnen sind in die etwa 250 Klöster wieder zurückgekehrt. Der sozialistische Mensch als solcher hat sich mit neuen Gefahren auseinanderzusetzen. Religionsfreiheit mit Auflagen. Der Aufbau der Abteien erfolgt mühsam, ehrenamtlich und mit spärlichen Mitteln. Es gibt einige Ausnahmen wie beim Potala, bei denen öffentliche Mittel zur Verfügung gestellt werden.

Unsere Reise führte uns zu den wichtigsten Klöstern des Gelugpa-Ordens: Drepung und Sera bei Lhasa, Ganden hoch oben in den Bergen. Wir machten unsere Kora um Tashilumpo, den Sitz des Panchen Lama in Shigatse – den wir leider nicht antrafen – und sprachen mit Mönchen im arg heruntergekommenen Kloster Reting. Letzteres lag mit seinen versteckten Einsiedeleien am Fuße eines uralten und wunderschönen Wacholderwaldes. Die Einsiedlerhöhlen von Yerpa aus dem 7.Jahrhundert erhielten ihre herausragende Bedeutung unter anderen durch den tibetischen König Songtsen Gampa und Padmasambhava, den Lotusgeborenen. Verstreut und eng an den Felsen schmiegten sich die einzelnen Mönchsklausen in etwa 4.200 Meter Höhe. Für uns war es eine Herausforderung, von Klause zu Klause zu ziehen. Die wenigen Meter hinauf zu den Höhlen verursachten immer wieder leichte Atemnot und nahmen meine volle Aufmerksamkeit in Anspruch. Bergauf, bergab führte der Weg. Tief unter uns lag das weite Tal das am Horizont von schneebedeckten Bergen eingerahmt wurde. Es wurde Zeit für unsere erste Meditation.

Im Kloster Ganden liefen die Vorbereitungen zur 600-Jahr-Feier auf vollen Hochtouren. Der in 1960er Jahren zerstörte Komplex strahlte wieder sein blendendes Weiß in den wolkenlosen Himmel, die Mönche des Gelugpa-Ordens diskutierten die letzten heiligen Schriften und die chinesische Armee fuhr uns in endlosen Kolonnen entgegen. Am Kloster trafen wir auf unsere erste Himmelsbestattungsstätte. Heinrich Harrer schrieb 1947 über diese tibetische Zeremonie: „Die Leiche wurde in weiße Tücher gehüllt und von einem berufsmäßigen Leichenträger auf dem Rücken fortgetragen. Nicht weit außerhalb des Ortes, auf einem erhöhten Platz, der durch die zahllos auffliegenden Geier und Krähenschon von Ferne kenntlich war, zerhackte einer der Männer mit einem Beil die Leiche. Ein zweiter saß daneben, murmelte Gebete und setzte eine kleine Handtrommel in Bewegung. Der dritte Mann wehrte die gierigen Vögel ab und reichte von Zeit zu Zeit … Bier oder Tee zur Stärkung. Die Knochen wurden zerstampft, damit sie auch von den Vögeln verzehrt werden konnten.“

Das 4.500 Meter hoch gelegene Nonnenkloster Tredum lag nur wenige Minuten von unserem Zeltplatz in einer benachbarten Schlucht. Bekannt durch seine heißen und heilbringenden Schwefelquellen, trafen wir 200 Meter höher auf einige Nonnen, die den ungewöhnlichen Besuch neugierig anlachten. Uns bot sich ein atemberaubender Ausblick. Eine kleine Meditation verleiht doch Flügel.

Wir hatten uns inzwischen an den ranzigen Geruch brennender Butterkerzen gewöhnt, selbst Gebetsfahnen auf Passhöhen aufgehangen und eifrig Gebetsmühlen gedreht. Der liebe Gott meinte es gut mit uns und belohnte uns mit nicht enden wollendem schönen Wetter. Nur der verkehrten Kora im Kloster Sakya, dem 1073 gegründeten finsteren Hauptkloster der Sakya-Sekte, schien ich meine spätere Grippe zu verdanken, die mich in Kathmandu mit Fieber ins Hotelzimmer verbannte.

Pilger am Jokhang-Tempel

Es heißt, dass man mit einer Umdrehung einer Gebetsmühle (Manikhor) alle im Inneren der Mühle aufgedruckten Texte gelesen hat.

Kloster Drepung

Es sind die ständig brennenden, immer wieder von Pilgern nachgefüllten Butterlampen, welche vor den Altären in großen Kupferkesseln flackern und deren ranziger Geruch sich in die Klostermauern für immer eingebrannt hat. Der ständige Geruch nach ranziger Butter muss ich mich immer wieder neu gewöhnen.

Kyangcha

Durch die religiöse Niederwerfung zeigen die Pilger ihre tiefe Verbundenheit mit der buddhistischen Lehre. Es sind gebräuchliche Gebetsrituale in Tibet. Oft begegnet man besonders eifrigen Pilgern, die ihre gesamte Pilgerstrecke als Kyangcha zurücklegen. Die Pilger verwenden dafür Hand- und Knieschoner und schwere Lederschürzen.

Mönch im Kloster Sera

Das Kloster gehört zu den "großen Drei". In dem 1419 gegründeten Kloster wird großer Wert auf die Debatte gelegt. Sie hat einen zentralen Stellenwert, weil sie auf eine Anweisung des Buddha selbst zurückgeht, der sagte, dass man seine Lehren nicht einfach aus Respekt zu ihm akzeptieren solle, sondern aufgrund der eigenen Überprüfung.

Pilger in Sakya

Das festungsartig gebaute Kloster war lange Zeit das politische und kulturelle Zentrum Tibets. Auf mich wirken die grauen, blutrot unterstrichenen Farben düster und wenig einladend.